Ziele – Gedanken zum Unterricht mit Erwachsenen

Herausforderung und Auswirkung der Pandemie für SchülerInnen und LehrerInnen in postfaktischen Zeiten

Wir Menschen spüren bewusst oder unbewusst, dass ein „Unser-Leben-fortsetzen-wie-bisher“ nicht funktionieren wird. Wenn wir beispielsweise unsere Noten im Internet bestellen und nicht beim Händler vor Ort darauf warten, dass er sie für uns besorgt, wissen wir: wir handeln nicht zukunftsorientiert. Und tun es doch. Agieren damit in gewisser Weise „postfaktisch“, denn der Wahrheitsgehalt hinter unserer Handlung tritt aufgrund des eigenen Interesses in den Hintergrund. Die Noten per „Prime“ morgen zu erhalten, morgen das Üben der Etüde bereits beginnen zu können, siegt als emotionaler Effekt gegenüber dem Wissen, dass der Händler vor Ort nicht dauerhaft wird überleben können, wenn wir nicht mehr bei ihm unsere Noten erwerben.

Postfaktische Ursachen sind es nicht, dafür sind es aber viele andere, unterschiedliche Gründe, warum sich erwachsene Menschen in welchem Alter auch immer, über meine Homepage an mich wenden und nachfragen, ob es denn tatsächlich noch Sinn machen würde, ein Instrument in diesem oder jenem Alter lernen zu wollen. Nicht immer ist ihnen das Leitmotiv ihrer Anfrage deutlich vor Augen. Jedoch werden alle in Ihrer Anfrage bewusst oder unbewusst durch ein inneres Gespür geleitet, dass in ihrem Leben der Raum für die Auseinandersetzung mit einer sie erfüllenden Tätigkeit vergrößert werden soll. Meist erfrage ich das Ziel, mit dem dieser Wunsch einhergeht. Und sehr häufig ist die Antwort im weitesten Sinne: „Freude haben“.

Um es vorweg zu nehmen: Ich halte die aktuellen Auswirkungen der Pandemie für ein Moment, das seine Spuren im Instrumentalunterricht hinterlassen wird und auch zukünftig weitere nach sich ziehen wird. Und zwar sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne.

Wir Menschen möchten etwas Sinnstiftendes tun. Wenn wir schon wie oben beschrieben handeln, und fast alle von uns tun dies andauernd – so muss es irgendwo und irgendwie eine Art Ausgleich bzw. positive Kompensation geben. Und: wir möchten etwas tun, was uns ablenkt von den Untergangsszenarien in den Zeiten der Pandemie. Wir fühlen: Unser Leben steht vor unermesslich großen Umwälzungen. Darüber nachzudenken benötigt Auszeiten. Sich mit Freunden oder Bekannten zu verabreden, ist, seit Corona das soziale Miteinander bestimmt und verändert, nicht immer einfach. Sich mit dem Instrument am Wohnzimmertisch vor dem Notenständer zu „treffen“, schon.

Dass Veränderungen kommen werden, ist für viele Menschen eine energieraubende Bedrohung. Dem etwas entgegenzusetzen ein Impuls, der einem gesunden Menschenverstand entspringt. Intuitiv suchen wir nach Möglichkeiten, Bereiche im Leben zu finden, von denen wir glauben, dass sie von den Umwälzungen und Erschütterungen unserer Zeit nicht betroffen sind. Und in der Tat sind schöpferisch-künstlerische Tätigkeiten ein enorm wichtiger Gegenpol für all das, was wir Tag für Tag entgegennehmen, wenn wir die Nachrichten sehen oder hören, unseren Berufen nachgehen, oder uns den privaten Herausforderungen stellen. Das Bedürfnis von uns Menschen nach sinnstiftendem Tun, nach Spiritualität und eben auch nach musikalischer Bereicherung im eigenen Leben ist etwas, das wächst. So, wie leider auch auf der anderen Seite die Unzufriedenheit mit Politik im weiteren und engeren Sinn wächst. Für die Biografie vieler Menschen ist das Fassungsvermögen von Unzufriedenheit, Stress und innerer Leere voll und übervoll. Ihre Wut darüber verlagert sich auf etwas offensichtlich Greifbares, worin man sich gemeinsam mit anderen im Protest dagegen zusammen tun kann. Was zumindest ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt und in sozial entbehrungsreichen Pandemiezeiten vermeintlich einen Wert erzeugt.

Die Pandemie verändert jedoch nicht nur unser politisch-gesellschaftliches Miteinander, sondern wie unter einem Brennglas hält sie uns vor, dass wir in unserem Leben Veränderungen vornehmen müssen, um psychisch und physisch gesund zu bleiben.

Innerhalb einer individuellen Biografie ist der Beginn einer solch zumeist planbaren Veränderung zum Beispiel der Eintritt in den Ruhestand. Eine meiner erwachsenen Schülerinnen – geben wir ihr den schönen, künstlerischen Namen „Babette“ – kam zu mir, als der Eintritt in ihre Zeit der Pensionierung in Sichtweite war. Bewusst entschied sich Babette für die Phase des gewaltigen Umbruchs in ihrem Leben für eine Aufgabe, die in ihrem bisherigen Leben nicht vorkam. Cello zu spielen erschien ihr eine erfüllende Tätigkeit zu sein. Auf der Grundlage der Liebe zur Musik stürzte sie sich in die Auseinandersetzung mit dem unbekannten Objekt, das bald zu einer Art Mitbewohner mutierte, beendete alsbald ihren Beruf mit einer Feier, auf der die Kollegen vor Ort sich als kleines Chörchen um sie herum versammelten und sie mit einem umgeschriebenen Schlager verabschiedeten. Der Refrain in der neuen Textvariante lautete: „Sie will nun Cello spielen gehen…..“! Ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten in der Beschäftigung mit dem Instrument kann nun bei Babette folgen. Es gilt, die Grundlagen des Cellospiels zu durchdringen, rhythmische Prinzipien zu erkennen, und das Hören zu üben. Nicht alle Erwachsenen beginnen erst in diesem Alter. Aber allen ist gemeinsam, dass sie im Unterschied zu Kindern einen Teil ihres Lebens hinter sich, und nicht mehr alles vor sich haben.

Als erwachsene InstrumentalschülerInnen haben wir eine zumeist mehrere Jahrzehnte umfassende Biografie. Unser bisheriges Leben bestand wie bei allen Menschen daraus, Erfahrungen zu sammeln. Diese haben sich angesammelt, sie sitzen in unseren – manchmal fast geschundenen – Körpern und wir sind geprägt von ihnen in unserer Art zu Denken und zu Handeln. Mit diesem Hintergrund sitzt „Babette“ nun in ihrer ersten Cellostunde, ebenso wie der kleine 6 jährige „Angelo“, der vor ihr von seiner Großmutter zum Unterricht gebracht wird, dem diese Erfahrungen des Lebens fehlen. Jedoch sitzen dort beide neugierig, offen, lernfreudig und bereit, in eine neue Welt einzutauchen. Im Unterschied zu Angelo ist „Babette“ nun in der Lage, sich einen ausgesprochen langen Zeitraum konzentrieren zu können. Diese Eigenschaft erlebe ich heute nur noch bei wenigen Kindern. Ob die Herangehensweise an Haltung und Umsetzung der gezeigten Vorgänge von Bogenführung, Fingerstellung usw. im Vergleich zu Angelo intuitiver ist oder nicht, vermag ich gar nicht zu sagen. In jedem Fall geschieht es natürlich auf einer anderen intellektuellen Ebene als bei einem Kind. 3 Bewegungsabläufe zu erlernen, die den Fingern, Händen und dem Körper fremd sind, ist somatologisch gesehen für Kinder deutlich leichter als für Erwachsene. Allerdings ändert auch das sich meiner Erfahrung nach. Und sicher wird es sich durch die Folgen der Pandemie weiter verändern, wenn man auf die Vielzahl der Meldungen blickt, dass Kinder in der Pandemiezeit ihr allgemeines Bewegungsspektrum verkleinern und vernachlässigen. Viele Kinder, die ich heute unterrichte, sind in ihrem Körper fest und in ihren Gliedmaßen verkrampft. So dass ich oft froh bin, nicht den noch deutlich komplexeren Prozess des Erlernens der Geigenhaltung weitergeben zu müssen. Manchmal ist es erschreckend zu sehen, welch langen Zeitraum es schon bei Kindern dauert, Verkrampfungen im Körper aufzuspüren oder gar zu lösen. „Babette“ kann ich über die erklärenden Erläuterungen eines Bewegungsvorgangs intellektuell ansprechen. „Babette“ wird nach Hause gehen, ihr Cello zieht als neuer Mitbewohner bei ihr ein und sie wird sich in den Medien informieren darüber, wie die „richtige“ Bogenhaltung erklärt wird. In der darauffolgenden Woche kommt sie nicht nur vorbereitet in den Unterricht, sondern erläutert mir nun ihrerseits die Informationen, die sie zusammengetragen hat im Laufe der vergangenen Tage. Wollen wir hoffen, dass Angelo innerhalb der gleichen Woche auf einem Kirschbaum gesessen hat, um vorbeigehenden Leuten Kirschkerne auf den Kopf zu spucken und sich alles andere als geschert hat darum, wie andere CellolehrerInnen im Internet die Fingerstellung der linken Hand, das Spiccato oder die Pronation erklären. Sollte Angelo ein Kind von Berufsmusikern sein, so wird er begrenzt auf dem Kirschbaum sitzen dürfen. Das Cellospiel wird ihm dann zu seiner täglichen Beschäftigung innerhalb eines Zeitraums, in der Angelos Freunde weiter wie die Krähen auf dem Baum hocken.

Sowohl für Angelo als auch für alle Erwachsenen gilt jedoch zunächst das Gleiche: Die Anfangsmotivation ist hoch, die Freude, dass das Instrument zu Hause eingezogen ist, wird für einen unbestimmten Zeitraum vorherrschen und dominieren. Erste Fortschritte sind zügig hörbar, viel Zeit wird dem Instrument geschenkt und mit Freunden bespricht man gern sein neues Hobby. Meiner Erfahrung nach dauert es etwa ganz grob 1 bis höchstens 2 Jahre, bis sich eine Tendenz einstellt: Kann ich als erwachsener Mensch mit dem, was man gemeinhin als Frustrationstoleranz bezeichnet leben, oder nicht? Die Fähigkeit, frustrierende Erlebnisse einen längeren Zeitraum auszuhalten, erarbeiten sich Kinder Tag für Tag. So müssen sie ohnehin alles erst lernen und das Erlernen des Instrumentes ist eben eins von vielem, was ihnen auf diesem Weg zu Geduld mit sich selbst verhelfen kann. Dies ist bei uns Erwachsenen anders. Wir sind als Berufstätige oder ehemals Berufstätige gewohnt, dass wir zunächst einmal etwas tun, was wir gut können. Darin erhalten wir Anerkennung, es wird honoriert und wir sind, je älter wir werden, um so mehr routiniert darin. Wir sind es keineswegs gewohnt, hinnehmen zu müssen, dass wir zügig an physische Grenzen stoßen, dass wir Woche für Woche und Tag für Tag erleben müssen, dass es Dinge gibt, die wir uns nicht kaufen können. Und dass es trotz aller Bemühungen, trotz allem Engagement eben auch nach xy Jahren intensiver Auseinandersetzung mit dem Instrument dann immer noch nicht so klingt, wie bei dem Lehrer oder der Lehrerin. Allerspätestens jetzt entscheiden nach meiner Erfahrung weniger die musikalischen Fähigkeiten von uns Erwachsenen darüber, ob und wie wir mit dem Instrumentalunterricht weiterhin erfolgreich bleiben, sondern es sind andere Fähigkeiten, die wir uns im Leben angeeignet haben. „Erfolgreich“ bedeutet für mich in diesem Zusammenhang, dass es tatsächlich Freude macht, das Instrument zu spielen. Dass ich grundsätzlich gern lerne, dass ich das Instrument gern um mich habe, dass ich mich weiterhin mit Engagement darum kümmere, weiterzukommen.

Denn sehr bald merken wir Erwachsenen ja, dass es ein verflixt weiter Weg ist, den wir da eingeschlagen haben. Nicht nur, dass unsere Finger nicht mehr so beweglich sind, wie sie es vielleicht früher waren, sondern auch, dass unsere „Festplatte“ ohnehin überfüllt ist mit den Dingen, an die wir heute und morgen zu denken haben…Und wir merken: Lernen ist in gewisser Weise auch immer anstrengend und üben – je konzentrierter wir es tun – kann mental häufig eine ausgesprochen ermüdende Angelegenheit sein. Die andauernde Wiederholung, um die auch ein Kind im Instrumentalunterricht nicht herumkommt, ist mühevoll. So schön wäre es, wir hätten klangliche Erfolge. Könnten endlich spielen, so wie wir es in Aufnahmen oder Konzerten hören.
Gewiss helfen musikalische Fähigkeiten und motorische Fertigkeiten. Einen Takt halten zu können, Intervallsprünge schnell zu hören bzw. zu erkennen, musiktheoretische Grundlagen mitzubringen. Aber je länger ich unterrichte, desto mehr frage ich mich, ob es tatsächlich eine wichtige Voraussetzung ist, all dies vorab bereits in der Tasche zu haben. Oder, ob nicht vielmehr die Liebe zur Musik ausreicht.
Und die Frage, die hierbei unterbewusst bohrend bleibt ist demnach: Möchte ich in anstrengenden Zeiten, in denen der Umgang mit Belastungen fast zum Alleinstellungsmerkmal einer erfolgreichen Biografie mutiert, nicht lieber spazieren gehen oder mich mit dem E-Bike auf den Weg zu einer Freundin machen?

Besonders wenig hilfreich ist, dass wir Erwachsenen im Vergleich zu den Kindern, die sehr häufig einfach munter drauflos säbeln, meist eine bereits sehr konkrete Tonvorstellung haben. Wir haben Bilder und Tonideale im Kopf und im Herzen, hören bei anderen InstrumentalschülerInnen, die viel jünger sind als wir, dass es überall um uns herum Menschen gibt, die Vieles viel, viel besser erlernt haben und wir fragen uns, wie es denn dann erst sein wird, wenn die jungen Leute so alt sind wie wir und wo sie dann stehen werden, wenn sie heute schon so spielen, wie sie spielen. Den Vergleich mit anderen müssen wir uns allerspätestens jetzt abgewöhnen. Neben der Liebe zur Musik ganz allgemein, sind es Fähigkeiten wie das Durchhaltevermögen, die darüber entscheiden, ob wir uns dauerhaft auf ein Instrument einlassen können. Die Freude an kleinen Erfolgen. Es sind die Anlagen in unserem Wesen, die darüber entscheiden, ob wir die ganze Sache hinschmeißen oder weiter dran bleiben. Denn an diesen Punkt kommen alle SchülerInnen, egal ob sie als Erwachsene beginnen, das Instrument zu erlernen, oder als Kinder: Die Frage kommt wie „das Amen in der Kirche“: Macht es für mich Sinn, weiterzumachen? Wie regelmäßig nehme ich diesen Termin des Instrumentalunterrichts wahr, der zusätzlich zu meinem Berufsleben und innerhalb meines Privatlebens nun in meinem Kalender neben vielen anderen Terminen steht? Wie oft gönne ich es mir, etwas für mich selbst zu tun in Zeiten, in denen schon das Zu-spät-kommen von einer einzigen Minute am Bahnhof weitreichende Folgen haben kann? Wie gnädig bin ich mit mir selbst? Welchen Umgang mit Fehlern habe ich im Gepäck des Lebens? Welchen Anspruch habe ich an mich und an das, was ich tue? Bin ich perfektionistisch veranlagt und ertrage es trotzdem, wenn es auch nach Jahren der intensiven Auseinandersetzung mit dem Instrument immer noch kratzt? Wieviel Zeit möchte ich dauerhaft investieren für etwas, was mir am Herzen liegt? Und: Ganz besonders jetzt in Zeiten der Pandemie: Bin ich flexibel? Kann ich mich darauf einstellen, dass Dinge in dieser Woche anders sind, als in der letzten Woche. Dass ich plötzlich über Telefon, per Zoom oder über ein Video Unterricht nehme? Wie stark ist meine Fähigkeit ausgebildet, stetig und unablässig immer wieder neu etwas zu versuchen, was mir zunächst nicht gelingt? Hab ich genügend Vertrauen in die Beteuerung der Lehrkräfte, die mir sagen, dass es eine Frage der Zeit und der Erfahrung ist, dass ich irgendwann keine Fingersätze mehr überall hinschreiben muss? Wie sehr ist mein mir ureigenster Ehrgeiz nicht sogar ein Hemmschuh für meine Fortschritte auf dem Instrument? Halte ich es aus, dass Entwicklungen auch hier nicht linear verlaufen, sondern, dass es oftmals einen Zeitraum von mehreren Jahren dauert, bis ich erst im Nachhinein bemerke, dass Vieles, was Zeit und andauernde Wiederholung benötigte, doch inzwischen besser geht? Welche Bedeutung erhalten Rituale bei mir zu Hause? Für die Kinder ist man meilenweit gegangen. Ein Ritual jagte das nächste: Ob es Abendbrot machen oder das Feiern von Einschnitten im Leben der Kinder war: Wir haben ihnen alles in der uns größtmöglichen Zuverlässigkeit immer und immer wiederkehrend zuteil werden lassen. Aber haben wir nun für uns selbst auch diese enorme Durchhaltekraft, an Dingen r-e-g-e-l-m-ä-ß-i-g dran zu bleiben? Wie stark ist in Zeiten von Corona unsere Resilienz ausgebildet? Und: Bin ich willens, zu Hause auch noch am einsamen Notenständer zu sitzen, wo ich doch in Pandemiezeiten ohnehin so viel Zuhause bleibe und sehr viel allein tun muss?

Kontinuierlich dranbleiben an etwas, was mir als InstrumentalschülerIn, aber vor allem als Mensch ein innerstes Anliegen ist. Auf diesem Weg haben Erwachsene im Grunde innerhalb der Zwänge ihrer Berufstätigkeit oder des Familienlebens durch die zeitlichen Rahmenbedingungen schwerere Voraussetzungen als Kinder. Aber diese Fähigkeiten, die wir als Kinder beispielsweise im Instrumentalunterricht hätten lernen können: Haben wir das als heutige Erwachsene woanders gelernt1, oder fehlt uns das heute? Sich der Herausforderung zu stellen, es innerhalb der Lebensphase der Berufstätigkeit zu erlernen, ist unglaublich schwierig. Ich bemesse den Anteil dieser beschriebenen Fähigkeiten inzwischen nach meiner jahrzehntelangen Berufserfahrung im Vergleich zu dem, was man im allgemeinen als Musikalität bezeichnet, als deutlich höher ein. Und hier spielt es keine Rolle, ob ich als Erwachsener ein Instrument neu erlerne, oder ob ich etwas, was mir in meiner Kindheit verwehrt blieb nachholen möchte, oder daran anknüpfen will. Wie auch bei den Kindern versuche ich bei Erwachsenen im Instrumentalunterricht zu erspüren, wann ich mit dem Ensemblespiel einsetzen muss. Je größer die Gruppe, desto lustiger ist es meist für alle und desto größer ist der enorme Motivationsschub. Mit anderen zusammen zu tun ist meiner Erfahrung nach die beste und nachhaltigste Möglichkeit, Löcher im Verlauf der Motivationskurve aufzufangen. Die Erfahrung, dass auch Andere mit der Intonation kämpfen müssen, dass nicht nur ich mein Tun habe mit der präzisen Abfolge von 1 So beispielsweise im Bereich des Sportes 6 Läufen, Dreiklängen oder Lagenwechseln, lässt mich wieder optimistischer und milder auf meinen im tiefsten Herzen doch geliebten Mitbewohner blicken. In Pandemiezeiten den Trumpf des Ensemblespiels aus der Tasche zu ziehen und einzusetzen war zeitweise unmöglich. Zu groß die Sorge der Ansteckung, zu reglementiert die Vorgaben für Musikschule und Privatunterricht.Mit den Folgen haben wir nun zu tun. Aber: Die Pandemie hat uns ebenfalls aufgezeigt, dass uns die geistige Auseinandersetzung mit Dingen, die unser Denkvermögen beflügeln, nachhaltig nährt. Wenn wir spüren, dass unser aller Leben an seine Grenzen kommt, dass wir etwas ändern müssen in unserer Art zu leben, so denke ich: Das, was wir beispielsweise tun können, ist, dass wir uns besinnen auf das, was wir kulturanthropologisch bewahren können. In einigen Jahren wird niemand von den Kindern mehr das Lied „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ kennen. Viele Erwachsene heute kennen weder das Lied „Die Gedanken sind frei“, noch sind musikinteressierte Eltern in der Lage, im Weihnachtskonzert „Stille Nacht“ mitzusingen, ohne den Text auf dem Handy mitzulesen. Wir singen weder mit unseren Kindern zu Hause, noch singen sie in der Schule. Schon in der Grundschule schallen anstelle dessen Breakdance und Hip Hop Klänge lautstark über den Schulhof, nach denen sich die Kleinen nur noch in seltenen Fällen rhythmisch bewegen können.Dem etwas entgegenzusetzen als MusiklehrerInnen an einer Schule oder als InstrumentallehrerInnen im Zusammenhang mit einer Musik- oder Verbundschule erfordert zunächst die adressatengerechte Ansprache. Zunächst das Hören von Musik und überhaupt das Hinhören zu kultivieren und zu vermitteln ist ein Weg, um den wir als MusikerInnen nicht herumkommen. Er muss am Anfang stehen, bevor wir beginnen mit dem, was wir als altes Kulturgut weitergeben können.

Zurück zu Babette, die jetzt nach einem Zeitraum von beinahe 10 Jahren Cellounterricht in einem Celloensemble mittun kann, das aus MusikerInnen besteht, die teilweise 50-70 Jahre Cello spielen. Sie spielt nicht die erste Stimme, nein. Und auch mit der 4. oder 5. Stimme hat sie ihr Tun. Aber sie ist mit Menschen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen in einer Gruppe verbunden, die alle eine unglaublich ansteckende Freude daran haben, zusammenzukommen und gemeinsam Musik zu machen. Und dies auf einem gar nicht so schlechten Niveau, da auch Berufsmusiker im Ensemble mitspielen. Die kleinen Auftritte sind Highlights im Verlauf des Jahres. Sie verbinden, sie motivieren.Für Babette vermutlich ein erfüllender Ertrag ihrer Bemühungen, den sie mit dauerhafter Kontinuität erreichen konnte. Auch wenn sie oft fluchen muss, einen Einsatz verpasst zu haben oder, dass zum achthundertsten Mal das tiefe „Fis“ zu hoch oder zu tief war. Meist zu tief. Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es für Kinder ausgesprochen hilfreich ist, wenn auch die Eltern oder die Großeltern ein Instrument spielen oder lernen es zu spielen. Kinder und Enkel erleben dann die Auseinandersetzung mit dem Instrument als etwas Selbstverständliches. Als etwas, das dazugehört zum Alltag. Ob mit oder ohne Pandemie ist in diesem Sinne dann glücklicherweise nicht von Belang. Und wenn es nur das ist, was wir dann in unserer Funktion als Eltern oder Großeltern als erwachsene InstrumentalschülerInnen an unsere nächste Generation weitergeben: die Liebe zur Musik, zum Instrument und die Bereitschaft, sich sowohl dem lebenslangen Lernprozess des Lernens, als auch dem eines Handwerkes zu stellen. Wohl zu keinem Zeitpunkt kann man innerhalb dieses Prozesses eine Trennung vornehmen: Eine geistig gestaltend-künstlerische Tätigkeit bleibt es. Auf welchem Niveau auch immer.

Denn das ist es vermutlich auch, was die folgenden Generationen vor allem lernen müssen: Das „Lernen“ an sich bzw. wie man lernt. Im Fokus werden nicht mehr die Inhalte selbst stehen. Und sich das Lernen über den Weg des Instrumentalunterrichtes anzueignen, ist dank der modernen Technik von Videoübertragungen und Co ein aus meiner Sicht unschätzbarer und pandemieunabhängiger Wert.

Ob unser aller Handeln hierin auf lange Sicht hin schlussendlich postfaktisch bleiben wird, ob wir zukünftig an unsere Kinder und Kindeskinder die alten Kunsthandwerke, unser Schriftgut der Literatur, die bildende Kunst der Malerei oder das Kulturgut „Musik“ noch weitergeben werden, hängt vielleicht nicht davon ab, ob wir als ProfimusikerInnen, als musikliebende Laien oder als HobbymusikerInnen unsere Etüden, Lehrwerke und CD-Aufnahmen oder Downloads im Musikalienfachhandel um die Ecke oder bei Online-Konzernen kaufen. Es ist jedoch eine Entscheidung, die uns niemand abnehmen wird. Wir treffen sie jeden Tag neu und niemand wird uns je dafür verurteilen. Außer wir selbst, wenn an Stelle des Musikalienhändlers zum Ende der Pandemie hin eine weltweit verbreitete Fastfoodkette die Räumlichkeiten übernommen haben wird und wir dann ausschließlich beim Online-Konzern einkaufen müssen. Die Tatsache, dass jedoch auch haptische Beweggründe kaufentscheidend sein können, ist für Noten oder CDs vielleicht nicht ausschlaggebend. Für den Kauf einer Flöte, eines Klaviers, eines mit Notenzeilen verzierten Schals oder eines Notenständers schon.

Gabriele Dennhardt arbeitet als Musik- und Religionslehrerin an einer Schule in Hessen, an der sie auch freiberuflich als Cellistin tätig ist. Ihre Ausbildung als Theologin, Pfarrerin und Orchestermusikerin waren Meilensteine in ihrer eigenen Entwicklung als Musikerin, als Pädagogin und Instrumentalpädagogin.